Sonntag, 17. Februar 2013

heimatlos

Es ist ein kühler, diesiger Sonntag und ich sitze wieder im Zug nach Kiel, der Stadt, die für mich so etwas wie eine Heimat wurde und in die zurückzukehren mir dennoch im Moment eher Unbehagen bereitet, sind dort doch viele Erinnerungen in die regennassen Steine der gräulichen Nachkriegsarchitektur gegraben, die noch sehr schmerzen. 

Am Fenster meines Platzes zieht das vorbei, was meine eigentliche Heimat sein sollte, mit der mich aber im Grunde nur noch die Leere verbindet, die dieser Landschaft so eigen ist. Die Gleise säumen kahle Felder, die sich bis an den Horizont erstrecken, nur gelegentlich unterbrochen von kärglichen Hecken, kleine Fleckchen Waldes und den vereinzelten Ortschaften, die sich beharrlich in dieser Einöde halten, auch wenn längst schon alles frische Blut aus ihnen gewichen ist. Was bleibt sind betagte, blutarme Gesichter, denen die Einsamkeit und die kalten Winter nicht viel ausmachen, so lange nur der alte Konsum um die Ecke beziehungsweise der ihn inzwischen ersetzende Supermarkt noch Korn im Angebot hat. Orte mit Namen, die niemand, der weiter als ein paar Kilometer entfernt lebt, kennt, wie es sie überall auf der Welt gibt. Orte ohne einen Platz  in der Geschichte, die an ihnen vorbeigezogen ist, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. 

Die Felder und Wiesen sind vom feuchten Wetter der letzten Wochen völlig gesättigt, man möchte fast sagen aufgequollen und die Maulwürfe haben auf ihrer Flucht vor dem Wasser wahre Hügelsiedlungen errichtet. Sie thronen über dem überfluteten oder aufgeweichten Land wie miniaturisierte Hügelgräber vergessener Königsgeschlechter. Die meisten sind verlassen, was man an der dünnen Decke alten Schnees erkennen kann, die ihre Kuppen bedeckt.  Zwischen ihnen äsen vereinzelte Gruppen Rotwild, die den vorbeieilenden Zug kaum zur Kenntnis nehmen, zu sehr sind sie schon an den Anblick und die Geräusche gewöhnt. 

So vertraut wie dem Wild die Bahn ist, so gewöhnlich ist mir der Verfall, an dem die Reise vorbei führt. Immer wieder säumen industrielle und menschliche Ruinen den Weg, nicht zerstört von irgendwelchen Kriegen oder Katastrophen, sondern von Vergessen und Zeit. Zeugnisse einer geschäftigeren Vergangenheit, als es hier noch normal war, dass jeder eine Arbeit hatte – ob sie nun sinnvoll war oder nicht. Niemand außer dem Verfall besucht noch diese Denkmäler eines untergegangenen Landes, das so manches Leben mit sich riss. Das Leben der anderen geht weiter, irgendwie und wenn auch oft andernorts und schließlich verblasst die Erinnerung wie die Farbe auf den grauen Fassaden. Der klamme Nebel des heutigen Tages deutet schon das letztliche Verschwinden an, gegen das sich Betonplatten und rostige Eisenträger noch zu wehren versuchen. Am Ende wird alles im Schweigen versinken, wie es jetzt von den grauen Schwaden umfangen und dem vorbeieilenden Blick entrissen wird. 

Die Luft im Abteil ist trocken, stickig und stinkt nach billigem polnischen Bier, so dass ich das Ende meiner Reise bereits nach kurzer Zeit herbei sehne, obwohl ich im Grunde weiß, dass ich heute noch nirgends ankommen werde. Ich werde zwar aus dem Zug austeigen, mich in einen Bus setzen, eine Tür aufschließen und mich irgendwann in ein leeres Bett legen, doch all das führt nirgendswo hin, zumindest noch nicht heute, nicht für mich, denn ich bin noch lange nicht bei mir selbst angekommen – wie sollte ich denn da irgendwo anders angelangen? So führt mich diese Fahrt durch das Nichts ins Nichts, getrieben allein von der Hoffnung, dass am Ende dieser Reise zumindest der Beginn einer neuen auf mich warten möge.

1 Kommentar:

  1. Sehen Sie endlich ein, Herr J.; dass ein Vogel nur zu Ihnen zurückkehrt, weil Sie ihn füttern, nicht wegen dem, was Sie sind. Die falsche Hoffnung auf mehr, was hinter dem steht, was offensichtlich ist, hat schon zu viele ihre Uhren verlieren lassen.
    Weisheit liegt nicht in den verschlungenen Pfaden des vermeintlich überlegenen Verstandes, welche von Schildern begleitet werden, die mit pseudointellektuellem Gedankengut so verschmiert sind, dass Orientierung unmöglich ist. Vielleicht liegt die Weisheit in der Einfalt, welche aber erst zu erkennen ist, wenn man schon die verschlungenen Pfade wandelte.
    Ein Mensch kann erst in seiner Stadt wirklich leben, nachdem er um die Welt gelaufen ist, um sie zu erreichen. Zwar finden wir auf der anderen Seite die gleichen Gedanken, doch setzt nicht eine andere Sprache auch anderen Fokus.
    Viele Worte für dieselbe Sache beleuchten mit verschiedenen Fackeln denselben Ort. Wir gehen dorthin, wir verlassen das Hier. Bei unserem Aufbruch spiegeln sich in unseren Augen das Lachen und Weinen.
    Start und Ziel liegen im Schatten, und überall dort glitzern weiß die Zähne unbekannter Münder, wollen sie mit uns reden, uns küssen oder uns zerfleischen?
    Wie es auch sei, unter uns wachsen Hände aus dem Boden. Sei es, dass wir aus Furcht, sie könnten uns greifen, weiterlaufen, oder weil sie uns stoßen, voran!

    Gute Reise,
    ein Freund.

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