Samstag, 16. Februar 2013

Die Zeit ist umgekippt



Die Zeit ist umgekippt. Völlig überraschend. Alle standen herum und schauten mit offenem Mund zu, wie sie sich immer mehr zu Seite neigte und dann auf einmal einfach umfiel und liegen blieb. Alles völlig geräuschlos und dadurch nicht eben wirklicher. Aber was ist schon noch wirklich, wenn die Zeit umgekippt ist? Um der Situation vielleicht ein wenig mehr Kausalität und damit Plausibilität zu verleihen sei bemerkt, dass die Zeit in Bad Kleinen umgefallen ist, genauer gesagt in einem aus unerfindlichen Gründen still stehendem Zug. Nur wenige wissen noch, wer hier zwischen Zügen nach nirgendwo vor fast 20 Jahren erschossen wurde und eigentlich ist das auch völlig egal, liegt hier doch nun jemand mit weit größerer Bedeutung, oder etwa nicht? Ich meine wir reden hier von der Zeit selbst. Was ist dagegen schon das Leben eines Möchtegernrevoluzzers, der gegen den Geist seiner Zeit mit Gewalt aufbegehrte und dabei auf einem schäbigen Umsteigebahnhof im ärmlichen Mecklenburg Vorpommern seine letzten bewussten, mit Blut und Pulverdampf geschwängerten Atemzüge tat. 

Und nun liegt hier also kein Stadt-Guerillero, sondern die Zeit, aber sie liegt hier nicht eben lebendiger als Wolfgang Grams seinerzeit. Ja, wenn man sich so umblickt, scheint sie hier seit jenem Tag nicht wirklich weg gekommen zu sein, als sei ein Teil von ihr damals auch im Kugelhagel der verängstigten Ordnungskräfte umgekommen. Sicher, es ist inzwischen schon wieder Farbe auf die Balken der Bahnsteigüberdachung gekommen, doch sie blättert schon wieder vom morschen Holz wie der Lack von der Fassade des Systems, gegen das Grams damals zu kämpfen glaubte und für das Michael Newrzella im Dienst von eben jenem erschossen wurde. Wer hat denn da jetzt eigentlich gewonnen? Vielleicht die Zeit, schließlich ist sie als letzte umgefallen.

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