Die Zeit ist umgekippt. Völlig
überraschend. Alle standen herum und schauten mit offenem Mund zu, wie sie sich
immer mehr zu Seite neigte und dann auf einmal einfach umfiel und liegen blieb.
Alles völlig geräuschlos und dadurch nicht eben wirklicher. Aber was ist schon
noch wirklich, wenn die Zeit umgekippt ist? Um der Situation vielleicht ein
wenig mehr Kausalität und damit Plausibilität zu verleihen sei bemerkt, dass
die Zeit in Bad Kleinen umgefallen ist, genauer gesagt in einem aus
unerfindlichen Gründen still stehendem Zug. Nur wenige wissen noch, wer hier zwischen
Zügen nach nirgendwo vor fast 20 Jahren erschossen wurde und eigentlich ist das
auch völlig egal, liegt hier doch nun jemand mit weit größerer Bedeutung, oder etwa
nicht? Ich meine wir reden hier von der Zeit selbst. Was ist dagegen schon das
Leben eines Möchtegernrevoluzzers, der gegen den Geist seiner Zeit mit Gewalt
aufbegehrte und dabei auf einem schäbigen Umsteigebahnhof im ärmlichen
Mecklenburg Vorpommern seine letzten bewussten, mit Blut und Pulverdampf
geschwängerten Atemzüge tat.
Und nun liegt hier also kein
Stadt-Guerillero, sondern die Zeit, aber sie liegt hier nicht eben lebendiger
als Wolfgang Grams seinerzeit. Ja, wenn man sich so umblickt, scheint sie hier
seit jenem Tag nicht wirklich weg gekommen zu sein, als sei ein Teil von ihr
damals auch im Kugelhagel der verängstigten Ordnungskräfte umgekommen. Sicher,
es ist inzwischen schon wieder Farbe auf die Balken der Bahnsteigüberdachung
gekommen, doch sie blättert schon wieder vom morschen Holz wie der Lack von der
Fassade des Systems, gegen das Grams damals zu kämpfen glaubte und für das Michael
Newrzella im Dienst von eben jenem erschossen wurde. Wer hat denn da jetzt
eigentlich gewonnen? Vielleicht die Zeit, schließlich ist sie als letzte
umgefallen.
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